Statement zum Urteil im Prozess gegen Dr. Kristina Hänel

24.11.2017 – Gießen, Hessen, Deutschland.

Schlechtes Wetter, harte Zeiten

Es ist Freitag Morgen, kalt und regnerisch. Gegen 8 Uhr versammeln sich ca. 150 Menschen vor dem Gießener Amtsgericht. Es sind hauptsächlich Frauen*. Grund dafür ist ein um 10 Uhr stattfindender Prozess gegen die Gießener Allgemeinärztin Frau Dr. Hänel. Angezeigt wurde sie vom christlich-fundamentalistischen „Nie Wieder e.V.“, ein Verein, der hauptsächlich dafür bekannt ist, bereits mehrfach Ärzt*innen wegen Werbung für Abbruch von Schwangerschaften angezeigt zu haben und auf seinen Webseiten Listen zu führen, welche Ärzt*innen Schwangerschaftsabbrüche durchführen.

Vorgeworfen wird ihr also der Verstoß gegen den aus der Nazizeit stammenden Paragraphen §219a. Zum ersten Mal kommt es zu einem Prozess wegen einer solchen Anzeige. Damit ist das Urteil richtungweisend für die weitere rechtliche Auslegung des §219a. Protestiert wird von unterschiedlichen Organisationen. Es sprechen Abgeordnete, Gewerkschaften sowie politische und feministische Gruppen und Einzelpersonen vor dem Amtsgericht. Das mediale Interesse ist groß. Mehrere Fernsehteams und Journalist*innen sind vor Ort, um über den Prozess Bericht zu erstatten. Doch gemessen an der Tragweite des Prozesses und seiner gesellschaftlichen Relevanz sind wir ein kläglicher Haufen.

150 Personen sind bei weitem nicht laut genug, um die so lange überfälligen Änderungen zu bewirken. Der Skandal: Es ist 2017 immer noch möglich, Ärzt*innen zu kriminalisieren und weiblich gewertete Körper durch den Staat zu regulieren.

Gegen 12 Uhr wird das Urteil verkündet

Schuldig. Zu tragen sind die Prozesskosten und 40 Tagessätze zu je 150 €. Hauptargumentation des Gerichtes ist der unfaire Wettbewerbsvorteil, der angeblich durch die Werbung für Abbruch von Schwangerschaften entstehe. Ebenso soll die Möglichkeit eines Aborts für Frauen* nicht Normalität werden. Für Frau Dr. Hänel steht fest, sie geht in Revision und will bis zum Verfassungsgericht klagen und Änderungen bewirken.

Ein frauenfeindliches Urteil auf mehreren Ebenen

Mit dem Urteil und der einhergehenden Argumentation bestätigt das Gericht damit die grundlegenden Punkte des Paragraphens §219a:

Es dürfe nicht Normalität werden, dass schwangere Frauen* selbst entscheiden können, ein Kind zu bekommen oder nicht.

Es dürfe nicht Normalität werden, Informationen über medizinische Möglichkeiten erhalten zu können, die am eigenen Körper passieren.

Es dürfe nicht Normalität werden, selbst entscheiden zu können, welche Ärzt*innen den Eingriff durchführen.

Die Anerkennung der körperlichen Selbstbestimmung von Frauen* darf also nicht Normalität werden.

Eine Dynamik, bei der sich veraltete Wertvorstellungen und Moralisierungen durch Gesetze manifestieren und, im Jahre 2017, immer noch die selben Auswirkungen haben, wie es vor über 70 Jahren der Fall war.

Unterdrückung, Repression, Kriminalisierung und Kontrolle

Durch dieses Urteil wird die gesellschaftliche Stigmatisierung von Aborten aufrechterhalten und legitimiert. Vereine, wie der „Nie wieder e.V.“, werden in ihrer Politik bekräftigt. Und damit werden Grundlagen für notwendige und überfällige Gesetzesänderungen entzogen.

Wir kritisieren das Urteil als frauen*feindlich, rückständig und veraltet.

Wir solidarisieren uns mit Dr. Kristina Hänel und allen anderen angezeigten Ärzt*innen.

Wir fordern alle Menschen dazu auf, sich zu organisieren & zu informieren. Sprecht in euren Strukturen, Familien und Freundeskreisen über den Prozess und über die herrschende antifeministische Gesetzgebung. Tragt euren Protest auf die Straße, wie in Gießen, Göttingen oder Frankfurt. Lasst uns laut und kreativ sein und dem Thema die Aufmerksamkeit geben, die notwendig ist, um die Zustände zu ändern.

Gemeinsam für den Feminismus fighten! Wir sehen uns beim nächsten Prozesstermin.

Offenes Antifa Treffen Marburg

PS:

Auf https://solidaritaetfuerkristinahaenel.wordpress.com/ habt ihr die Möglichkeit Frau Dr. Hänel durch Spenden für kommende Prozesskosten zu unterstützen. Außerdem findet ihr noch weitere Informationen und Solidaritätserklärungen.